Was wäre wenn..? Grade an so besonderen Tagen wie heute tobt das Gedankenspiel wie wild in meinem Kopf. Was wäre, wenn damals alles anders gekommen wäre, die Mauer vielleicht erst zehn Jahre später gefallen und ich nicht acht sondern 18 gewesen wäre, als die Einheit kam? Hätte mein Leben eine andere Wende genommen? Von einer, die umzog, auszog, weit weg zog und wieder zurück zog.
Als das Umzugsauto im Sommer 1992 mein Spielzeug verschluckte, um es kistenweise zusammen mit all unserem Hab und Gut 360 Kilometer quer durch die Republik zu karren, war ich vor allem eins: Sauer! Denn ich wollte nicht weg. Nicht jetzt, wo mein Tanzpartner Torsten und ich gerade unsere ersten Rock’n’Roll Turniere getanzt hatten. Und während alle anderen Kinder in der vierten Klasse eine ausführliche Empfehlung für die weiterführende Schule bekamen, stand ich mit leeren Händen da. Wie es dort sein würde, wo wir hinzogen, mochte sich keiner meiner Lehrer auszumalen. Denn unsere Zukunft sahen meine Eltern im Osten.
Dass wir in die vermeintlich „falsche“ Richtung zogen und unser Umfeld kollektiv den Kopf über diese Entscheidung schüttelte, ging damals komplett an mir vorbei. Ich wusste bloß: Sehr weit weg wartete ein großes Abenteuer auf mich, das 10-jährige Mädchen und eine Welt, die mich von Tag eins an faszinierte. Wie groß Altenburg war! Mit genug Platz für gleich mehrere Stadtbuslinien – aber nur ganz wenigen Supermärkten, wie ich sie bisher kannte. Wo gingen die alle einkaufen? Doch am meisten verwunderwirrten mich all die neuen Speisen und Begrifflichkeiten, die ich mir gleich der Englischvokabeln in der Schule aneignete.
Das Eierkuchen – Pfannkuchen – Dilemma
Was zum Henker ist eine „Fettbemme“ oder warum ist das „Jägerschnitzel“ eine panierte Jagdwurstscheibe und nicht ein Schnitzel mit Pilzsoße. Apropos Jagdwurst: Bäh und nochmal bäh, erst recht in der Tomatensoße für die Nudeln, äh, Spirelli. Entgeisterte Blick beim Bäcker, als Mama ein paar „Teilchen“ kaufen möchte und zwei Berliner, die hier unter „Pfannkuchen“ laufen, was wiederum Eierkuchen sind. Quarkkeulchen? Ähm, was? Königsberger Klopse oder Soljanka, Mutzbraten oder Kräppelchen, meine Lernkurve ging steil. Überhaupt dieses ganze Konzept der Schulspeisung. Ich weiß noch, wie ich sehr ratlos dem Pulk an Klassenkameraden in den Speisesaal folgte und mich arglos in die Schlange stellte. Zum Glück hatte die liebe Essensfrau Mitleid mit mir und ließ mich Ahnungslose nicht verhungern. Alles anders. Muss ich erwähnen, dass ich Zeit meiner Schulzeit nie einen Hort von innen gesehen habe. Gab’s „bei uns“ nicht.
Es war eine aufregende, intensive Zeit, noch dazu plötzlich in komischen Vierteln gemessen. Zu manchem Treffen um „Viertel x“ kamen wir „Viertel-vor-oder-viertel-nach-Sozialisierten“ am Anfang regelmäßig zu früh oder zu spät 😉
„Das hätte ich nicht gedacht!“
Fast 30 Jahre später könnte man meinen, unser „Wessi-Status“ hätte sich ähnlich pulverisiert wie die Überreste der Mauer. Doch anders als die steinerne Trennwand zweier Landesteile scheinen sich die Klischees in den Köpfen hartnäckiger zu halten. Immer noch. „Also das hätte ich jetzt nicht gedacht!“ Wie oft habe ich diesen Satz in meinem Leben schon gehört, wenn mein Gegenüber die Erkenntnis ereilte, dass ich – bitte kreuzen Sie die zutreffende Antwort an –
a) laut meiner Geburtsurkunde kein Ossi bin („Wirklich nicht????“)
b) mich in Köln genauso wie in Leipzig, Indien oder Altenburg zu Hause fühle
c) nicht aus dem Norden komme (wo ich am allerliebsten hingesteckt werde, aber tatsächlich noch nie gewohnt habe)
d) dem Klischee des „Besser-Wessis“ so gar nicht entsprechen will („Du bist nicht ’so'“)
e) im Osten wohne…
Mehrere Heimaten
Ich bin im Hochsauerland aufgewachsen, in Ost-Thüringen erwachsen, hab in Köln mein Studentenleben genossen, in Indien eine weitere Heimat gefunden, nur um als werdende Mama über Leipzig nach Hause zu kommen, nach Altenburg. Letztes Wochenende war ich nach Ewigkeiten mal wieder in Köln, saß am Rhein und wies den Touris wie selbstverständlich den Weg zum Heumarkt. Es fühlte sich genauso wohlig vertraut an wie Picknick im Clarapark, Salsa tanzen in Mumbai oder eine Runde um den Großen Teich. Weil „Zuhause“ für mich kein einziger Ort, sondern ein großes Gefühl ist, dass mit bambusähnlichen Wurzeln West mit Ost mit Indien verknüpft und den Herzensmenschen, die mir alles bedeuten.
Letztens wurde ich gefragt, ob mein Leben im Osten mein Grund für’s Gründen sei und ich verneinte. Hüben wie drüben bin ich ich und charakterlich einfach so gestrickt, dass ich ein paar neue Reihen an mein Leben stricke, wenn es nicht mehr passen will. Vielmehr denke ich, dass mich dieser komplette Neuanfang in jungen Jahren geprägt hat – unabhängig von der geographischen Ausrichtung. Mitzuerleben, dass bei Null anfangen nichts schlimmes ist, sondern eine Chance, seinem Leben eine neue Richtung zu geben, das ist tief in mir drin. Wobei mich das Mamasein zaghafter in Sachen krasse Kurswechsel gemacht hat, gerade weil ich weiß, wie hilflos man sich als Kind zuerst fühlt.
Wäre ich eine Andere?
Ich müsste lügen, wenn ich mir nicht manchmal vorstellen würde, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn mich meine Eltern nicht auf die andere Seite des Landes verfrachtet hätten. Erst Recht, weil ich dank der sozialen Medien sehe, was aus den „immer da“ gebliebenen geworden ist. Hätte ich wie mein Tanzpartner Torsten erfolgreich getanzt und Rock’n’Roll unterrichtet? Oder wär wie Jessi Schützenkönigin geworden? Hätte ich nach der Realschule in der Nähe eine Ausbildungsstelle gefunden, statt perspektivlos wieder das Weite suchen zu müssen? Wäre ich die kreative Weltenbummlerin mit vier Heimaten, die ich heute bin? Ich weeses nich, meen Gudsta. Et kütt wie kütt.
Kein Platz für Mauern
Was ich jedoch 100pro weiß, dass ich nicht diejenige sein werde, die in den Köpfen ihrer Kinder Mauern hochzieht. Ja, wir alle neigen dazu, Schubladen zu bemühen, weil es so schön einfach scheint, Menschen nach „gut“ und „böse“, „doof“ oder „mega“ zu sortieren. Ihnen Etiketten anzuheften aufgrund ihrer Herkunft oder Gesinnung, an deren Beschreibung sie sich dann bitteschön auch zu halten haben. Aber wäre es nicht viel cooler, wir ließen uns viel öfter von der Fremde(n) überraschen? Wir sind alle Deutsche, Bewohner eines unfassbar vielfältigen Landes, das es bis in die kleinste Ecke zu entdecken lohnt unabhängig von den Koordinaten. Für meine Kinder wünsche ich mir, dass sie Wurzeln schlagen, die flexibel genug sind, überall in der Welt auf fruchtbaren Boden zu stoßen. Als liebenswerte Menschen aus dem einen, ganzen Deutschland.
P.S. Das Bild ist heute Vormittag entstanden. Als ich mit den anderen Gospelerinnen von „Colours of Soul“ diesen genialen Blick von den Treppen der Brüderkirche auf den Altenburger Markt genießen durfte, die Sonne schien und ich echt glücklich war, hier (auch) sehr zu Hause zu sein. 🙂